Impfen 2020 - Kosten- / Nutzen - Bewertung

Impfen - ein Problem der vielen Köpfe und Töpfe?

Impfen. Für Viele schlechthin die Erfolgsgeschichte der Medizin, über die schon Alles gesagt wurde. Für Manche ist Impfen aber auch das Böse schlechthin. Kompetente Abhandlungen zum Thema [1] sind mittlerweile zeitlos, weil sowohl Problemsituation, als auch Lösungsansätze und Lösungshindernisse seit vielen Jahren unverändert erscheinen.

Impfen hat viele Aspekte für uns alle. Es berührt viele Lebensabschnitte, unterschiedliche Personengruppen und Verantwortlichkeitsbereiche mit unterschiedlicher Eindringlichkeit. Und es hat auch unterschiedliche Kostenbereiche. Auf der Nutzenseite schützt uns Impfen vor einer Erkrankung, die uns Zeit, Einkommen, vielleicht permanent die Gesundheit und vielleicht auch noch das Leben kostet. Auf der Kostenseite kostet Impfen schlicht Geld, Zeit und bringt selten auch Gefahren mit sich.

Die Kosten-Nutzen-Rechnung ist dabei für viele durch Impfungen langzeitig verhinderbare Erkrankungen unabhängig vom Bewertungsmodell so eindeutig, dass niemand mehr ernsthaft zum Rechenstift greift.

Selbst bei den jährlich immer wieder notwendigen Impfungen kann die Rechnung positiv sein. Eine simple Kosten-Effektivitäts-Analyse [2], welche die Sinnhaftigkeit der Grippeimpfung anhand der Daten der Saison 2014/15 in Deutschland untersucht, kommt auf einen Faktor 1:10. Aufgewendeten Kosten von 300 Mio Euro stehen dabei Ersparnissen für die Gesellschaft von rund 3000 Mio gegenüber, wenn man als Krankheitskosten nicht nur den Topf der Krankenhausaufenthalte, sondern auch den Schaden mitrechnet, der den Betroffenen und der Gesellschaft entsteht. Aber wenn diese monetäre Analyse auch nur näherungsweise stimmt - warum wird dann nicht auf Spritze komm raus geimpft, wir haben doch nichts zu verschenken?

Ein profaner Grund für niedrige Impfraten könnte überschaubare Gesundheitskompetenz sein. Österreich findet sich bei internationalen Bewertungen von Gesundheitskompetenz und Transparenz meist am Ende der europäischen Skala bei Bulgarien, auch wenn nicht namentlich sortiert wird.
Andererseits spielen auch föderale Strukturen mit ihren vielen hoheitlichen Geldtöpfen eine tragende Rolle in diesem Drama. Ein Kopf, der nur Almosen für einen eng begrenzten Personenkreis verteilt, für den ist Solidarität meist nur eine Empfängerrolle.
Glaube, Interessenskonflikte oder mangelnde kognitive Teilhabe sind auch noch sich aufdrängende Erklärungsvarianten, mit der nicht nur individuelle Entscheidungen zum Schaden der gesamten Gesellschaft erklärt werden können.

Selbst für interessierte Personen führen parlamentarische Anfragen aus den letzten Jahren [3,4] zur Einsicht, dass die Kostentöpfe und Zuständigkeiten für Impfungen nicht so leicht zu durchschauen sind. Ein wenig Zuschuß hier, ein wenig weniger Almosen dort oder sogar mehr, falls die WHO gerade eine Pandemie ausruft.
Die Tendenz der Kosten-Nutzen-Relation scheint trotzdem eigentlich einfach und die reale Situation absurd - schon seit langem.

Alle Jahre wieder: Impfwoche

Wir reden über nichts Neues, es ist zum Winseln. Beinahe alle Jahre wieder, zur Zeit der internationalen Impfwoche, redet, schreibt und diskutiert man darüber - über Impfempfehlungen, Impfmüdigkeit und die Notwendigkeit der langfristigen Bedarfsplanung [5], nur selten über organisierte Beschaffung. Aber sollten wir nicht langsam damit beginnen darüber zu diskutieren, wo denn überall die Hemmschuhe für artikulierte Impfziele verteilt sind? Wer und was hemmt und was aufgrund von Wissenschaft, Ethik, Gesellschaftökonomie und Transparenz dringend zu tun wäre?

Die bisherigen Maßnahmen des Nationalen Aktionsplans zur Masern- und Röteln-Elimination aus 2013 [6] waren offenbar nicht so erfolgreich wie erhofft, bieten aber vielfältige Gelegenheiten, daraus zu lernen. Wir haben einen wirklich kompetent besetzten Impfausschuss, der begründete Impfempfehlungen erarbeitet und jährlich aktualisiert. Wie und wie weit man diesen Empfehlungen folgt, ist aber eine politische Entscheidung. Trotz der vielerorts üblichen "Geiz ist geil"-Einstellung leistet sich gefühlt jedes zweite Dorf und jede dritte Klinik eine individuelle Umsetzung der Empfehlung. Ob das in einer vermeintlich besseren Expertise begründet liegt oder ob es noch andere Beweggründe gibt, das kann nur der lokale Experte beantworten. Ich als Durchschnittsbürger kann es nur absurd finden und die Begründung einfordern, weil Individualisierungen bei Planung, Beschaffung und Umsetzung zumeist auch höhere Kosten verursachen, die letztendlich aus unserem gemeinsamen - und damit auch meinem - Steuertopf gedeckt werden müssen.

Covid-19 hat die Karten und Prioritäten neu gemischt

Die aktuellen Maßnahmen und Erklärungen zur Pandemieeindämmung führen uns vor Augen, Nase und Mund, wo Ansteckungsrisken lauern und wie man Ansteckungswahrscheinlichkeiten minimiert. Der Aufwand für Isolierung und Schutz ist wahrlich nicht klein und ich würde gerne darauf verzichten können.

Die finanziellen Aufwendungen - letztlich aus unserem gemeinsamen Finanztopf - sind mehr als beträchtlich und wir als Gemeinschaft haben deshalb noch weniger zu verschenken als zuvor.
Strukturprobleme werden sichtbar, wo früher etablierte Umgehungsweisen Missstände im Zuständigkeits-Wirrwarr kagiert haben.
Gesundheitsverantwortliche in unterschiedlichen föderalen Ebenen und strukturellen Nischen fallen durch wenig Vorstellungsvermögen auf, können Vieles nicht nachvollziehen und sich Etliches nicht erklären - es drängen sich diverse Un-Vermutungen auf.

Beinahe acht Million Bundesfußballtrainer hören und reden plötzlich über Virologie und die Folgen und Qualen der Eindämmungsmaßnahmen. Der noch überall sichtbare Mund-Nasen-Schutz hat aber auch etwas Besonderes: er ist ein sichtbares Zeichen von verordneter Solidarität. Er ist der optische Ausdruck einer Gesundheitsmaßnahme, mit der wir nicht uns selber, sondern Andere schützen - etwas ungewohnt Besonderes. Die aufbrandende Diskussion zur Covid-19-Impfpflicht ist aber ein Thema, über das man trefflich folgenlos warme Luft ventilieren kann, weil die Diskussion folgenlos bleibt, solange kein Impfstoff in großer Menge in Sicht ist.

Impfschutz ist nie 100-prozentig, darum ist Schutz durch das Gegenüber auch in normalen Zeiten und für andere übertragbare Erkrankungen notwendig. So wie Kinder ein Recht auf bestmögliche Gesundheitsversorgung und damit Impfungen haben, sollte auch das Recht für alle selbstverständlich sein, sich in einer so wenig wie praktisch möglich ansteckenden Umgebung bewegen zu können.
Rund ein Achtel aller Masernfälle des Vorjahres betrafen Personen aus dem Gesundheitsbereich [7] - es drängen sich viele Un-Vermutungen auf. Auch die Vermutung, dass Österreich nicht grundlos in der Nähe von Bulgarien liegt, selbst betreffend Gesundheitspersonal und trotz dringender Impfempfehlung seit spätestens 2012.

Medizin ohne Register ist wie Autofahren mit geschlossenen Augen

Es gibt kaum medizinische Register zu allgemeinen Gesundheitsthemen in Österreich. Wir wissen nicht nur wieviele Intensivbetten gerade betriebsbereit sind, wir wissen viel weniger über tatsächliche Erkrankungsfälle abseits von SARS-CoV-2 und deren Verläufe. Gerüchteweise sind nicht einmal die zur Abrechnung gemeldeten Diagnosen zur Verwertung brauchbar. Für Patienten bedeutet Registerlosigkeit kompletten Freiraum in der medizinischen Betreuung, frei von Wissen über den Best Point of Service und frei von Möglichkeiten zur Qualitätsbewertung und -erhaltung [8].

Es gibt auch nur Schätzungen über den Impfstatus der österreichischen Bevölkerung [9,10], aber der elektronische Impfpass ist jetzt eine späte Chance in vielen Dimensionen.
Er ermöglicht erst faktenbasierte gesundheitspolitische Entscheidungen für übertragbare, impfvermeidbare Krankheiten - allerdings nur, wenn er vollständig genug ist. Eine Impfstatus-Erhebung mit der e-Impfpass-Einführung ist damit naheliegend anzuraten und wird hoffentlich niederschwellig zugänglich gemacht.

Wir wissen recht wenig über die Anzahl der Personen, die (wie Kinder noch) nicht geimpft werden können, bei denen die Impfung nicht wirksam wird oder wieviele Personen immunsupprimiert durch den Alltag gehen müssen. Diese Menschen können wir nur vor Ansteckung schützen, indem wir sie wegsperren oder indem wir dafür sorgen, dass sie sich nirgendwo anstecken - indem wir dafür sorgen, dass wir durch Impfungen soweit möglich gesund bleiben oder durch Mund-Nasen-Maske und Nachwuchselefant ihr Risiko reduzieren, wenn trotzdem ein ansteckendes Virus unterwegs ist.

Es braucht Taten, nicht nur Empfehlungen

Wer die Masern-Impfdiskussion der letzten Jahre auch nur ansatzweise verfolgt hat und daraus lernt, verschwendet jetzt wohl freiwillig keine Sekunde dafür, über Impfpflicht zu diskutieren. Kampagnen zur Impfaufklärung sind sowas von gestern, weil es ist schon alles gesagt und über Glauben kann man nicht streiten.

Empfehlungen bezüglich Impfen sind schön, gut und für österreichische föderale Verhältnisse evident untauglich. Wir müssen neben Kosten-Nutzen-Rechnungen auch das Recht des Einzelnen berücksichtigen, sich in einer möglichst nicht-ansteckenden Umgebung bewegen zu können. Und um Impfraten zu erhöhen, brauchen wir nicht in erster Linie Impfpflicht, sondern eigentlich Selbstverständlichkeiten, wie eine bundesweit einheitliche und niederschellige Umsetzung des Impfplans für übertragbare Krankheiten als Kassenleistung und einen für die Berufsausübung im öffentlichen Raum obligaten Impfstatus.



Letzte Änderungen: 2020-06-04